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La Gomera 7 „der Grasbaum“

La Gomera 7 „ der Grasbaum“

Ich stehe mit einer Gruppe älterer Herrschaften, dick eingemummelt im kalten Wind. Hier 1000m über dem Meeresspiegel, sind wir in dichte Nebelwolken gehüllt, es pfeift der Wind und - was ich mir vor knapp 20 Minuten unten im Tal überhaupt garnicht vorstellen konnte - es ist arschkalt. Ich ziehe meinen Poncho fest um mich, wünsche mir Omas Stulpen und meine Winterjacke her. Zum GLÜCK habe ich heute meine Sandalen gegen feste Schuhe getauscht, aber auch NUR, weil der Leiter des Wanderbüros mich ausdrücklich darauf hingewiesen hatte. Mit nackten Füßen hätte ich jetzt vermutlich zu wimmern angefangen, immerhin steht uns eine mehrstündige Tour bevor. Aber ich bin in guter Gesellschaft — die gesamte Gruppe ist mehr oder weniger zu dünn bekleidet und friert. Brigitte, eine resolute, drahtige Dame aus Bayern, die schon seit 40 Jahren auf der Insel lebt, ist heute unsere, wie sie sagt, Kräuterfee. Sie jagt mit uns von Pflanze zu Pflanze, durch die zauberhafte Bergwaldwelt. Das mag daran liegen, dass sie diese Tour jede Woche macht und daran, dass es heute einfach zu kalt ist, um länger an einem Fleck stehen zu bleiben. Ich schnappe alles auf, freue mich, ein paar neue Bekannte zu entdecken. Brigitte redet im Galopp und ich halte besser meinen Schnabel. Mund zu — Ohren auf und bei dieser Gelegenheit erfahre ich Folgendes:

Die allgegenwärtige Palme ist gar kein Baum — sondern botanisch gesehen ein Gras. Ein Riesengras. Das liegt daran, dass ihr Stamm kein richtiger Baumstamm ist, mit Rinde, Kambium und Holz, sondern sich, soweit ich das erkennen kann, aus abgestorbenen Palmwedeln langsam in die Höhe schiebt. Wenn die Palme noch klein ist und sie ein bißchen beschnitten wird, sieht sie aus wie eine riesige Ananans. Ob nun Gras, Frucht oder Baum — in jedem Fall ist sie eine Besonderheit. Es ist nämlich so: Die Gomerapalme trägt ganz kleine Früchte, die zwar irgendwie an Lichies erinnern, aber, soweit ich das verstanden habe, nicht essbar sind. Hingegen strömt durch die Palme ein milchiger, zuckersüßer Saft „ el guarapo“. Diesen erntet hier seit Generationen der „guarapero“. Der steigt in die Palmkrone und schneidet ihr Herzstück heraus. Durch gezieltes Schaben tritt der süße Saft aus. Damit diese kostbare Flüssigkeit nicht vergärt, wird die Palme nachts angezapft und am frühen Morgen steigt der guarapero wieder in die Höhe und sammelt die Ernte ein. Diese Prozedur wird über eine Periode von vier Monaten wiederholt. Dann läßt man den erschöpften Grasbaum vier Jahre in Ruhe. Die braucht er, um sich vollständig zu regenerieren. Erst wenn die Krone wieder ganz in ihrer alten Fülle erscheint, ist es Zeit für die neue Ernte. Der süße Saft muss direkt verarbeitet werden. Einstmals wurde in den Dörfern die morgendliche Ernte zusammengetragen und in gemeinsamen Kesseln zu einem fast schwarzen Sirup eingekocht. Das war sehr praktisch, denn so konnte man sich die Arbeit teilen. Das Feuer musste ja stetig brennen und der Saft unentwegt gerührt werden. Über den Dörfern hing dann ein süßer Karamellgeruch, erzählt Brigitte, die sich daran noch erinnern kann. Eine Familie besaß in der Regel drei bis vier Palmen und konnte damit ihren Jahresbedarf an „Zucker“ decken. Der Palmensirup ist inzwischen ein Markenzeichen und Verkaufsschlager der Insel. Obwohl er nicht mehr von den Frauen des Dorfes gerührt wird, ist es immer noch der guarapero, der sein angesehenes und gefährliches Handwerk ausübt und für den süßen Saft ins schwindelerregend hohe Palmgras klettert.

Mitschreiben kann ich nicht mehr, denn inzwischen sind mir die Finger eingefroren. Zum Glück steht am Ende unserer Tour eine Berghütte mit geheiztem Kamin! Während sich die Anderen über das Touristenmenü hermachen, schlürfe ich eine warme Suppe und schaue nachdenklich aus dem kleinen Fensterchen, vor der eine in Nebel gehüllte Palme im kalten Wind tanzt.

 

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