Vorfrühling oder Wie man den Bären weckt

 

 

Stellt euch vor, es ist Winter. Alles arbeitet langsamer, es gibt wenig Licht, wenig Bewegung, die Nase läuft schon lange, es knackst in den Gliedern.
Nun streichen uns die ersten Frühlingdüfte um die Nase. Die Vögel singen so herrlich wie nur jetzt, die Knospen blähen sich und sind kurz vor dem Knall.

Alles gerät in Wallungen. Auch wir. Und auch die ganzen Schlacken, die sich über den Winter in uns angesammelt haben. So kann es kommen, dass wir uns trotz aller Euphorie plötzlich müde und schlapp durch den Frühling schleppen. Draußen jubiliert die Welt und wir kommen nicht in die Gänge. Nun könnte ja ein Vögelchen vorbeikommen und uns zuzwitschern: „Hey, das Wunder ist schon wieder geschehen. Die Erde verwandelt sich, die ersten Kräuter sind da. Komm heraus, lass es dir schmecken und es wird dir besser gehen.“
Zwitscher, zwitscher und er fliegt davon.
Eigentlich wissen wir es ja, die Erde tut nichts umsonst. Für ihre Mitbewohner läßt sie genau das sprießen, was sie gerade brauchen. Und wir brauchen gerade die Kräfte der wilden Frühlingswiese. Also kämpfen wir uns aus dem Haus und müssen nicht weit gehen. Der erste Löwenzahn schenkt einige geschmackvolle Blätter, klitzekleine wildentschlossene Brennesselinnen im zartrosa Kleid warten auf uns, am schattigen Waldrand knabbern wir Scharbockskraut und vom Sauerampfer können wir garnicht genug kriegen. Etwas schüchtern winken die Blätter der Schafgarbe und wir nehmen sie dankbar, denn so sanft ist sie nur jetzt. Langsam fällt der neblige Schleier von unseren Augen und wir merken, wie allmählich die Lebenskräfte zurückkehren. Sie führen uns tiefer in den Wald, in die Nähe eines Baches und dort wächst einen üppiger Bärlauchteppich. Ob schmal oder breit, das ist die Krönung des Vorfrühlings. Nicht umsonst nennt man ihn Bärlauch. Nicht umsonst.
Er ist scharf und mächtig und sein Geruch kriecht einem aus allen Poren. Der Bärlauch putzt uns den Winterdreck aus dem Fell und rüttelt uns aus dem Winterschlaf. Ein Gefäßputzer, ein Blutreiniger, ein Keimtöter, ein Schleimlöser, ein Stoffwechsel in Fahrt Bringer – ein geniales Frühlinggeschenk.
Wir sammeln den saftigen, grünen Lauch und werden ihn zu Hause mit tränenden Augen und tropfender Nase schneiden, ihn in Öl einlegen, oder in Butter drücken. Und dann essen wir solange davon, bis er uns zu den Ohren herauskommt, bis unser Körper gründlich durchgeputzt ist und das ist in der Regel kurz vor dem letzten Glas.
Die gefüllten Bärlauchtüten versetzen uns in Hochstimmung, oder war es das Kranichpaar, das ganz in der Nähe auf der Wiese stand, oder der Anblick der prallen Knospen? Wir danken dem Vögelchen, das uns was gezwitschert hat, denn wir haben uns wieder erinnert...